Manfred Sihle-Wissel
Manfred Sihle-Wissel, geboren 1934 in Tallinn, wurde als einer der bedeutenden Künstler des Landes 2019 in der Herbert Gerisch-Stiftung mit einer großen Retrospektive geehrt und ist in der Sammlung der Stiftung vielfältig vertreten. Ein ausgeprägtes Formbewusstsein ist elementar für sein Werk, das ebenso in der Abstraktion des 20. Jahrhunderts wurzelt wie in älteren Traditionen, vor allem der Antike. Seine Lehrer an der Hamburger Landeskunstschule waren Hans Martin Ruwoldt und Edwin Scharff. Seit 1959 arbeitet Sihle-Wissel als freischaffender Künstler, abgesehen von einer einjährigen Gastdozentur an der Kieler Muthesius-Schule.
Aus Sihle-Wissels Werk sprechen eine besondere Wahrnehmung für den Raum und ein starkes Körpergefühl, die elementar sind für seine Arbeit. Das gilt für seine Zeichnungen – etwa das Blatt Skulpturen im Raum von 2017 – ebenso wie für das plastische Werk, für seine Porträts ebenso wie für seine freien Arbeiten. Ein schönes Beispiel ist die Hockende von 1967 ( 126), bei der das Vorbild der menschlichen Figur in der kubisch abstrahierten Formensprache noch erkennbar ist. Auch seine abstrakten Arbeiten, die aus dem freien Spiel der Kräfte im Raum und der Balance plastischer Volumina entwickelt sind, basieren auf dieser Körperwahrnehmung. So ist bei der Bewegten Figur von 1988 die menschliche Gestalt als Idee noch zu spüren, zugleich aber lebt die Plastik von ihrer kubischen Kraft und der freien Rhythmik der Komposition.
Von Anfang an begleitete das Zeichnen die bildhauerische Arbeit. Jede plastische Idee entwickelt Sihle-Wissel zunächst in Entwurfszeichnungen, in denen er verschiedene Ansichten durchspielt. Dazu kamen früh Aquarelle, meist Landschaften oder Architektur. Seine Motive fand der Künstler auf seinen Reisen in die Landschaften der Antike, bevorzugt nach Griechenland und in die Türkei. Die Collage-Technik seiner Aquarelle erlaubt ihm, die spezifischen Mittel der Malerei um eine bildhauerische Komponente zu erweitern und die Komposition in ihrem Rhythmus noch zu steigern, wie das Blatt Am Kap der Palinuros von 1996 zeigt. Die formale Stringenz und das Gespür für Volumina erinnern an Bildhauerzeichnungen; zugleich offenbaren die farbigen Aquarelle ein Gespür für Atmosphäre, dem sich im Medium der Malerei neue Möglichkeiten bieten.
Dr. Uta Kuhl